

Es tönt wie ein Treppenwitz der Geschichte. Aber die Bündner meinten es ernst: Sie wollten der erste autofreie Kanton der Schweiz werden und verboten 1900 das Autofahren in ganz Graubünden. Was wir aus schrulligen Bergdörfern wie Zermatt oder Braunwald bis heute kennen, setzten die Bündner mit mehreren Volksabstimmungen bis 1925 erfolgreich durch. Je mehr sich die Unterländer darüber aufregten, umso entschlossener hielten die Bündner dagegen.
Keine Lobby fürs Auto
Weil die Rhätische Bahn alle wichtigen Lebensadern des Kantons versorgte, sah man in Graubünden keine Notwendigkeit im Ausbau des Strassennetzes. Die damals boomenden Tourismusdestinationen Arosa, Davos und St. Moritz waren bereits ans Bahnnetz angeschlossen, weshalb sich der Druck dieses Wirtschaftszweiges in Grenzen hielt. Die Gäste reisten mit der Bahn an und wurden dann mit Pferdekutschen zu ihren Hotels gebracht. So hatten auch die Kutscher grosses Interesse daran, dass sie nicht durch selbstfahrende und motorisierte Kutschen ersetzt wurden. In den Tourismusdestinationen fürchtete man sich zudem vor erhöhter Lärmbelästigung sowie Luftverschmutzung durch den aufwirbelnden Staub. Wasser auf die Mühlen von Umweltvereinigungen und Naturfreunden, die sich ebenfalls dagegen einsetzten.
Schlechte Strassen
Der Zustand der Strassen sehr schlecht. Lediglich benutzt von Pferde- und Ochsen-Fuhrwerken waren sie zerfurcht, steinig und schmal – für Fahrzeuge gänzlich ungeeignet. Selbst wenn es kein Verbot gegeben hätte; die meisten Strassen wären mit Fahrzeugen ohnehin nicht passierbar gewesen. Das musste auch der Davoser Grossrat Gaudenz Issler feststellen, der 1897 als erster Bündner ein Auto kaufte. Er gab es bald wieder zurück, mit der Begründung, dass die Davoser Landstrassen für das Auto nicht geeignet seien.
25 Jahre langes Autoverbot
Auf Druck aus der Bevölkerung erliess die Bündner Regierung 1900 ein Gesetz, welches das Fahren von Automobilen auf den Strassen des Kantons grundsätzlich verbot. Dem ging eine Volksabstimmung voraus, die diesen Entscheid demokratisch legitimierte. Graubünden war damit der einzige Kanton in der Schweiz, in dem ein vollständiges Fahrverbot für Autos galt. Selbst in den Folgejahren wurde das Verbot im Kanton mehrmals demokratisch bestätigt, zuletzt im Jahr 1925.
Aber der Fortschritt machte auch vor einem Autoverbot nicht halt und der Druck ausserhalb der Kantonsgrenzen stieg an. Insbesondere, weil dem Bund 1921 die Kompetenz der nationalen Automobil-Gesetzgebung übertragen wurde. Der Kanton Graubünden aber verhielt sich wie das berühmte gallische Dorf in den Asterix-Romanen. Kutscher, Landwirte, Tourismus, Umweltvereinigungen, Naturfreunde, aber auch Ärzte und Politiker kämpften mit Händen und Füssen gegen eine Aufhebung des Verbots, die vom Rest der Eidgenossenschaft immer deutlicher gefordert wurde. Auch in der Presse wurde der Konflikt emotional geführt. Leserbriefe, die Social Media von damals, warnten vor „Verkehrsterror“, vor Lärm und Landschaftszerstörung. Einige Gemeinden organisierten Protestaktionen gegen die Einmischung von Aussen in kantonale Geschäfte.
Aufhebung und Folgen
Zwar wurde das Verbot 1925 vom Bündner-Volk noch einmal bestätigt. Der Volkswillen hatte dieses Mal nur kurz Bestand. Am 21. Juni 1925 hob der Bund das kantonale Autofahrverbot auf. Auf nationaler Ebene war der Föderalismus ein Hemmschuh und so siegte das Bundesrecht über das kantonale Recht.
Schön und gut, doch die Strassen waren noch immer eine Zumutung für jede Art von Fahrzeug. Ein paar Wahnsinnige (allen voran die Briten) liessen sich davon jedoch nicht aufhalten – und empfanden die Aufhebung des Fahrverbots als persönliche Einladung, die Berge auch mit dem Auto zu erobern. Vier Jahre, nachdem das Verbot aufgehoben wurde, fand 1929 mit der ersten „Internationalen Automobilwoche St. Moritz“ das erste „Bernina Bergrennen“ statt. Natürlich auf Initiative einiger – Sie ahnen es schon – verrückter Briten.
Verzögerungen beim Strassenbau
So sehr sich die Auto-Enthusiasten freuten: Die Bündner liessen sich nicht in die Suppe spucken. Der national verordnete Neubau von Strassen zog sich unnötig in die Länge. In einigen Gemeinden wurden Strassen absichtlich nicht ausgebaut oder instand gehalten, um Autos fernzuhalten. Es gibt Berichte darüber, dass einzelne Dorfbewohner Autofahrer zum Umkehren zwangen oder durch Aufstellen von Hindernissen den Weg versperrten. Es kursierten sogar Gerüchte, dass Fahrzeuge durch Nägel oder spitze Gegenstände beschädigt worden seien. Konkrete Belege gibt es dafür nicht.
Viele Bergstrassen blieben deshalb noch Jahrzehnte für den motorisierten Verkehr gesperrt oder unterlagen strengen Auflagen. Erst mit dem Ausbau der Infrastruktur in den 1930er- und 1940er-Jahren fand die volle Integration des Automobils in Graubünden statt. So bekam der Julierpass als erste Schweizer Alpenstrasse einen Asphaltbelag.
Wenn Sie heute wieder mal auf den Bündner Strassen im Stau stehen: Seien Sie dankbar, dass Sie hier überhaupt fahren dürfen.
Text: Jürg Zentner
Bilder: Nationalmuseum